Letzte Runde in der Dorfschänke

NWZ am 19.05.2012

Das bundesweite Kneipensterben trifft die ländlichen Gebiete besonders hart

In Deutschland machte seit 2001 jede vierte Kneipe dicht. Aber es gibt Rettungsversuche und neue Ideen.
VON KARSTEN KROGMANN

NORDWESTEN – Er weiß nicht, wie oft er dort war in den vergangenen Jahrzehnten, „auf jeden Fall ziemlich oft“, sagt Helmut Diers, der Bürgervereinsvorsitzende. Er brauchte ja bloß aufs Fahrrad zu steigen und die Landstraße hinunter zu radeln, 250 Meter von einem Ortsschild zum anderen, schon war er beim „Neustädter Hof“. Zur Theaterprobe. Zum Maibaumsetzen. Zum Dorffest. Zum Heimatabend. Zum Bürgerball. Bis eines Tages dieser Zettel im Fenster des „Neustädter Hofs“ klebte: „Wir schließen unser Geschäft zum 1. April 2008“, hatte Frau Schlehr, die Wirtin, draufgeschrieben. Das Gastgewerbe lohnte sich nicht mehr, fand sie.
In Neustadt gab es plötzlich keine Kneipe mehr.
Wie auch in Strückhausen nicht, ein paar Kilometer die Landstraße hinauf. Oder noch ein paar Kilometer weiter, in Oldenbrok.
Im Rathaus der 6000-Einwohner Gemeinde Ovelgönne haben sie neulich nachgerechnet:
Vor 30 Jahren gab es auf den 123 Gemeinde quadratkilometern 17 Gaststätten; jetzt waren es vier. „Das geht nicht“, sagte Helmut Diers, 62 Jahre alt: „Wir müssen doch irgendwo unsere Feste feiern!“ Gemeinde ohne Gasthaus. Das Kneipensterben ist keine Erfindung aus Ovelgönne, Landkreis Wesermarsch. Seit 2001 hat in Deutschland jede vierte Gaststätte dichtgemacht, die Zahl der Schankwirtschaften sank von 48 000 auf 36 000. Besonders hart trafes die Dörfer: In Bayern etwa gibt es in 500 von 2200 Gemeinden keine Kneipe mehr.
Aber Hülsmann in Rodenkirchen, den gibt es noch. Der 65-Jährige steht wie jeden Tag in seinem verqualmten Schankraum hinter der Theke. Zwei Kraftwerkarbeiter kommen herein, „Kaffee“, bestellt der erste, „Kaffee“, ordert auch der zweite. Das ist ein Grund fürs Kneipensterben, glaubt Gerfried Hülsmann, der Wesermarsch-Vorsitzende des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga): ein verändertes Trinkverhalten. Früher gab es nach der Schicht „’ne Lüttje Lage“: ein Bier und ein Korn.

Nebenan im Nichtraucherzimmer, wo die Fußballpokale stehen, gibt Hülsmann dem Reporter einen Kaffee aus. „Wenn wir den Thekenbereich nicht zum Raucherzimmer gemacht hätten, dann käme gar keiner mehr“, sagt er. Das ist ein zweiter Grund fürs Kneipen sterben, meint Dehoga Mann Hülsmann: das staatliche Rauchverbot. 1974 hat er das Gasthaus in der Dorfmitte übernommen. Damals gab es draußen noch die Viehwaage, drinnen saßen Bauern und Händler bei einer „Lüttjen Lage“ zusammen. Abends kamen sie zum Skatturnier wieder, und hinten traf sich die Dorfjugend, da stand der Flipper. „Das ist alles vorbei“, sagt Hülsmann, „so was spielt man heute am PC.“ Das „Gasthaus Hülsmann“ heißt heute „Hotel Bier´Café Hülsmann“, und das ist auch der Grund, warum es ihn immer noch gibt, sagt der Wirt: „Wir sind sehr vielfältig aufgestellt.“ Da ist das Hotel Hülsmann für die Monteure und Urlauber. Da ist sein Restaurant in Sehestedt für die Ausflügler. Da ist gegenüber seine Markthalle für die Volksfeste. Da ist sein Partyservice für die Leute, die lieber privat feiern. „Von der Kneipe allein könnte ich nicht leben“, sagt der Wirt. Soziologie der Kneipe Eine private Feier brachte Helmut Diers auf eine Idee: Sein Sohn feierte seinen 30. Geburtstag in einer stillgelegten Gaststätte, in Hessen war das, auch dort gibt es ein Kneipensterben.
„Das müsste auch im ,Neustädter Hof‘ möglich sein“, dachte Diers.
Er fand einen Partyservice, der sich um Getränke kümmern wollte, Gudrun Schlehr war einverstanden, und so konnte der nächste Dorfgemeinschaftsball wieder im „Neustädter Hof“ stattfinden. Aber der Zustand des „Neustädter Hofs“ verschlechterte sich, eine Renovierung stand an. Wer war jetzt dafür zuständig?
Spiegel der Gesellschaft 70 Kilometer von Neustadt entfernt, im Bremer Steintorviertel, gibt es einen Kneipen-Experten: Professor Dr. Thomas Krämer-Badoni, 67 Jahre alt, Stadtsoziologe. Er schrieb 1987 das Buch „Die Kneipe“, Co-Autor Franz Dröge hatte er in der Kneipe kennengelernt. Im „Gerken“ an der Feldstraße, längst geschlossen. Aber heute will Krämer Badoni nicht in die Kneipe, obwohl das „Heidi“ nur fünf Häuser straßabwärts liegt. Er macht lieber unten in der Küche am eigenen Kaffeevollautomaten Cappuccino, sorgfältig wärmt er zwei Tassen vor. „Das ,Heidi‘ macht übrigens auch bald zu“, berichtet er, „wegen der stark gestiegenen Miete.“ Vermutlich zieht bald ein Restaurant dort ein.

Kneipen, sagt Krämer-Badoni, erfüllen bestimmte Funktionen für bestimmte Gruppen der Bevölkerung. Die Arbeiterkneipe diente als Wohnraumerweiterung; sie verschwand mit dem sozialen Wohnungsbau. Die Hafenkneipe unterhielt die Seeleute; sie ging unter, als die
Schiffe aus Kostengründen draußen auf Reede blieben.
Die Familienkneipe bot Familien Fernsehvergnügen; sie blieb dunkel, als die Leute eigene Fernsehgeräte kauften. „Die Veränderungen in der
Gesellschaft spiegeln sich in der Kneipe wider“, erklärt der Professor. Ein Beispiel: Als Fußballspiele im Bezahlfernsehen übertragen wurden, entstanden die Sportbars. Und noch ein Beispiel: In Berlin wächst die Zahl der Kneipen gegen den Bundestrend. „Warum?“, fragt Krämer-Badoni und antwortet selbst: „Ich gehe davon aus, dass das mit den Tourismusströmen zusammenhängt.“

Neue Ideen
Der Dehoga-Bezirksverband Weser-Emsbestätigt:
Wenn in der Wesermarsch zuletzt ein gastronomischer Betrieb neu eröffnet wurde, dann zu meist in der Urlauberregion rund um Butjadingen. Zum Beispiel die „Melkhüser“, 20 davon sind in den vergangenen Jahren in der Wesermarsch entstanden:
Die vielen Fahrradausflügler wollten unterwegs ihren Durst löschen, die „Melkhüser“ erfüllten diese Funktion für sie: Landwirte verkauften ihnen heimische Produkte und Getränke. Einen Saalbetrieb mit Kegelbahn brauchten die Fahrradausflügler nicht.
Immer weniger Menschen brauchten das: Der demografische Wandel ließ die Dorfbevölkerung schrumpfen. Und wer noch da war, fuhr zum Feiern immer häufiger in die Stadt oder ging ins Vereinsheim, wo es eine eigene Schankkonzession gab. Natürlich, sagt Soziologe Krämer-Badoni, hat sich auch das Freizeitverhalten sehr verändert. „Für uns waren Kneipen vor 30 Jahren Märkte: für Geschlechtspartner, für Freunde, für Diskussionspartner.“ Heute erfüllt diese Funktionen häufig das Internet. So entstanden zeitweise viele Internetcafés; sie verschwanden, als die Leute eigene Internetanschlüsse und Flatrates bekamen. „Die Kneipe ist nicht tot“, sagt Thomas Krämer Badoni:
„Wenn etwas stirbt, entsteht etwas Neues.“ 250 Leute machen mit Helmut Diers ist wieder mal von einem Ortsschild zum anderen
geradelt, er parkt sein Fahrrad vor dem „Neustädter Hof“. Er hatte noch eine Idee: Der Bürgerverein würde eine Genossenschaft gründen, die „Dorfgemeinschaftshaus Neustadt eG“, alle Leute im Dorf könnten Anteile kaufen.

Es gab einen Infoabend im „Neustädter Hof“, und nach drei Monaten waren 60 000 Euro zusammengekommen, 250 Anteilseigner gibt es seither. Ende Mai ist die Gründungsversammlung, danach wird die Genossenschaft den „Neustädter Hof“ kaufen und renovieren. Sie wird dafür einen Kredit aufnehmen, Saal-Vermietung, Kegelbahn und ein Kiosk sollen die Kosten decken. Den Kiosk wird jemand aus dem Dorf betreiben, er soll auch Getränke verkaufen, in der alten Schankstube könnte so etwas wie ein Bürger Café entstehen, plant Diers. „Aber das muss die Genossenschaft entscheiden.“
Er steigt auf sein Fahrrad, schaut noch einmal auf die zugezogenen Vorhänge des neuen Dorfgemeinschaftshauses.
Er lächelt, bald wird er wiederkommen. Zum Feiern.